Vorwech

Vorwech

Dienstag, 7. Juni 1791 in Günnemoor im Teufelsmoor nahe Worpswede - Fidi Fricke hastete noch vor Tagesanbruch auf dem Sanddamm nach Hause. Die hellen Birkenstämme links und rechts des aufgeschütteten Sandweges waren ihm Wegweiser. Auf seinem schmalen Rücken baumelten zwei ausgewachsene Kaninchen, die er in einer Schlinge gefangen hatte. Er versuchte die schwindende Dunkelheit und den Morgennebel mit den Augen zu durchdringen. Er durfte niemandem begegnen, schließlich war das Wilddieberei! Das Land ringsum gehörte den großen Moorbauern und dem König.

Aber wie sollte er sonst seine vielköpfige Familie satt bekommen – Torfluk, das Kalffleesch der Torfsoden konnte man ja nicht essen! Er eilte weiter und vertraute auf sein Glück. Direkt hinter der hohen schiefen Birke stolperte er. Seitlich am Weg lag etwas. Erschrocken und leise fluchend, rappelte er sich wieder auf. Er war über einen Fuß gefallen! „Das sind ja die Beine einer Frau!“ rief Fidi aus. Warum rührt die sich denn nicht? Ich hab ihr doch mit meinen Holschen einen ziemlichen Tritt gegeben. Villicht is de von güüstern noch duun, überlegte er. Gestern auf der großen Hochzeit in Worpswede hatte es sicher viel Gutes zu trinken gegeben.

Trotz des Nebels merkte er, dass der Oberkörper der Frau über den Rand des Sandweges schräg nach unten zum Moorgraben hing. „Hitt di, sie wird doch nicht ertrunken sein?“ Fidi wurde ganz hibbelig. Er ließ seine Kaninchen fallen und beugte sich tief hinunter. Nein, der Hinterkopf mit der Haube war zwar nass, aber nur eine Hand baumelte im Wasser. Vom Rücken der Frau hing verdreht und verheddert die blau karierte Schürze an den Wurzeln der Birke fest. Er rüttelte an ihrem Arm. Sie bewegte sich noch immer nicht. Er versuchte sie umzudrehen. Aus den Augenwinkeln sah er dabei im Wasser einen Holschen, der sich ebenfalls in den Wurzeln der schiefen Birke verfangen hatte. Merkwürdig steif war die Frau. Fidi mühte sich, er löste die Schürze, zog und zerrte den Oberkörper auf den Damm und drehte den Körper um. „Das ist ja Grete Koop“, rief er aus und versuchte sie zu wecken: „Grete, mok diene Klüsen up!“ Er nahm Gretes Kopf in die Hände und schüttelte sie sacht. Keine Reaktion, nur die Haube verschob sich. Bestürzt starrte Fidi auf seine Hände. Sie waren feucht und klebrig – das war Blut! Gretes Haare waren voller Blut! Grete war tot und er hatte ihr Blut an den Händen. Fidi warf sich auf den Bauch und wusch das klebrige Rot im Wassergraben ab.

Durch die Bewegung hatte sich der Holschen aus dem Wurzelwerk befreit. Fidi fischte ihn heraus. Mit dem Schuh in der Hand stand er fassungslos da und überlegte fieberhaft: „Wat schall ek nu doon?“ Ein paar Meter weiter war ein Holzbrett über den Graben gelegt. Als schmale „Brücke“ führte es zur Hütte von Früllerk Grapenthien, der gestern seine Line geheiratet hatte.

 

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